Eine scharfsinnige Analyse von Wahrheit im politischen Bereich.
Das organisierte Manipulieren von Tatbeständen und Meinungen ist ein relativ neues Phänomen, mit dem wir im Osten durch das ständige Umschreiben der Geschichte, im Westen durch die Propagandakünste des »image making« und durch das Verhalten der Staatsmänner nachgerade überall vertraut sind. Die traditionelle politische Lüge, wie wir sie aus der Geschichte der Diplomatie und der Staatskunst kennen, pflegte entweder wirkliche Geheimnisse zu betreffen – Fakten, die öffentlich unbekannt waren – oder Absichten, denen ohnehin nicht die gleiche Verläßlichkeit zukommt wie vollendeten Tatsachen. Was nur in uns selbst vorgeht, also Absichten, Motive und dergleichen, ist nicht Wirklichkeit, sondern Möglichkeit, und was als Lüge beabsichtigt war, kann immer noch Wahrheit werden. Von all dem kann bei dem organisierten politischen Lügen, mit dem wir heutzutage konfrontiert sind, nicht die Rede sein. Diese Lügen betreffen keine
Geheimnisse, sondern Tatbestände, die allgemein bekannt sind. Die zeitgenössische Geschichtsschreibung in Sowjetrußland kann ungestraft und sehr wirksam Fakten verleugnen, an deren Realität sich noch jedermann erinnern kann; und das gleiche gilt für das im Westen so beliebte »image making«, bei dem man ungestraft alles unter den Tisch fallen lassen kann, was das gerade erwünschte »lmage« eines Ereignisses, einer Nation oder einer Person zu stören geeignet ist. Denn dieses »Bild«, das die politische Propaganda verfertigt, soll nicht wie ein Porträt dem Original schmeicheln, sondern es ersetzen; und dieser Ersatz kann natürlich durch die Techniken der Massenmedien ungleich wirksamer in der Öffentlichkeit verbreitet werden, als es das Original je von sich aus vermag.
Hannah Arendt: Wahrheit und Politik. Vortrag aus dem Jahre 1969.
Weitere Teile sind in der Youtube-Playlist zu finden.Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten
Die Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten – vérités de raison et vérites de fait – bezeichnen bei Gottfried Wilhelm Leibniz zwei Arten von Wahrheiten.
Die Vernunftwahrheiten sind notwendig, die Tatsachenwahrheiten sind jedoch nicht ohne einen Abgleich mit der Wirklichkeit zu ermitteln. Eine Tatsachenwahrheit kann sein: „Es regnet draußen“ – man muss nachsehen, ob das gerade „der Fall“ ist. Zu den primären Vernunftwahrheiten zählen die logischen Gesetze. Leibniz nennt die rationalen Momente identisch, denn sie sind die Wiederholung des Gleichen, ohne dass sie den Menschen etwas Neues über die Dinge mitteilen.
Die durch die These von Leibniz konstatierten Bereiche unterschiedlichen Wahrheitsanspruchs entwickelte Ludwig Wittgenstein in seinen Schriften Tractatus Logico-Philosophicus (1922) und Über Gewißheit (postum erstveröffentlicht 1969) weiter. Unter Punkt 6.1 schreibt er im Tractatus, „Die Sätze der Logik sind Tautologien, [6.11:] Die Sätze der Logik sagen also Nichts (Sie sind analytische Sätze).“ In Über Gewißheit schloss Wittgenstein an diese Überlegungen illustrativ Fragen über den Wahrheitsgehalt mathematischer Gleichungen an. Dass der Satz „12 × 12 = 144“ wahr ist, folgt…
Definition aus Wikipedia – Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten
Hannah Arendt
Hannah Arendt (geboren am 14. Oktober 1906 als Johanna Arendt in Linden, heutiger Stadtteil von Hannover; gestorben am 4. Dezember 1975 in New York City) war eine jüdische deutsch-US-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.
Die Entrechtung und Verfolgung von Juden in der Zeit des Nationalsozialismus sowie ihre eigene kurzzeitige Inhaftierung durch die Gestapo im Juli 1933 bewogen sie zur Emigration aus Deutschland. Sie emigrierte über Karlsbad und Genf nach Paris, wo sie als Sozialarbeiterin bei jüdischen Einrichtungen wirkte. Nachdem sie vom nationalsozialistischen Regime 1937 ausgebürgert worden war, war sie staatenlos, bis sie 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Seitdem verstand sie sich als US-Amerikanerin und bekannte sich zur US-amerikanischen Verfassung. Arendt war unter anderem als Journalistin sowie Hochschullehrerin tätig und veröffentlichte wichtige Beiträge zur politischen Philosophie. Gleichwohl lehnte sie es ab, als „Philosophin“ bezeichnet zu werden. Auch dem Begriff „Politische Philosophie“ stand sie eher distanziert gegenüber; sie zog die Bezeichnung „Politische Theorie“ für ihre entsprechenden Publikationen vor und legte Wert darauf…
Definition aus Wikipedia – Hannah Arendt
Schildbürger
Die Gefahren den eigenen „Images“ zum Opfer zu fallen ist an der alten Geschichte der Schildbürger gut nachzuvollziehen (Auszug aus Wikipedia – Schildbürger):
Die Bürger Schildas waren gemeinhin als äußerst klug bekannt, weswegen sie begehrte Ratgeber der Könige und Kaiser dieser Welt waren. Da die Stadt auf diese Weise langsam aber sicher entvölkert wurde, verlegte man sich auf eine List:
Die Schildbürger begannen sich dumm zu stellen, so dumm sogar, dass sie begannen, jede Aussage, auch Metaphern, wörtlich zu interpretieren. Dies war so erfolgreich, dass sie mit der Zeit in ihrer Dummheit verblieben und dafür genauso bekannt wurden wie ehedem für ihre Klugheit.
Tatsachenwahrheit
Auszug aus dem Refereat von Jan Stetter „Hannah Arendt über Wahrheit und Lüge in der Politik“
Als Tatsachen bezeichnet Arendt öffentlich bekannte, unumstößliche Wahrheiten, die dennoch, stehen sie den Vorteilen oder Ambitionen einer der zahlreichen Interessengruppen im Wege, mit großem Eifer und sehr wirksam bekämpft werden, indem diese Tatsachen zu Tabus oder Geheimnissen erklärt und somit aus dem öffentlichen Gedächtnis verdrängt werden. Somit ist die Tatsachenwahrheit also stets durch das Politische stark gefährdet. Die trotzdem erfolgende Kundgebung dieser Tatsachen kann dann in diktatorischen Regimen bis hin zur physischen Bedrohung und Vernichtung führen. Dagegen läßt aber die unter dem Edikt der Meinungsfreiheit in der freien Welt geduldete Kundgebung wahrer Tatsachen häufig beobachten, daß diese Tatsache als eine zu diskutierende Meinung unter anderen gesehen wird, wodurch als ein politisches Problem ersten Ranges die faktische Wirklichkeit selbst auf dem Spiel steht, indem alles in Frage gestellt werden kann. Die im Grunde genommen wesentlich einfacher als die Vernunftwahrheit zu fassende Tatsachenwahrheit erleidet dadurch das Schicksal, nicht von bewußter Fälschung und organisierten Lügen, sondern von Ansichten und Meinungen bedroht zu werden. Als Beispiel dafür nennt Arendt Platons Höhlengleichnis, in dem der vom Himmel der immerwährenden Ideen in die Höhle zurückkehrende Philosoph versucht, seine Erkenntnisse mitzuteilen und erkennen muß, daß seine Wahrheit in der Vielzahl von Ansichten und Meinungen verlorengehen. […]
Vernunftwahrheit
Auszüge aus dem Refereat von Jan Stetter „Hannah Arendt über Wahrheit und Lüge in der Politik“
Die Vernunftwahrheit oder auch philosophische Wahrheit unterliegt, wie alle philosophischen Anschauungen, zahlreichen differierenden und divergierenden Thesen. Laut Kant soll die Vernunft zur Erkenntnis ihrer eigenen Grenzen führen. Sie ist nicht unfehlbar und kann nur funktionieren, wenn von ihr in jeder Form öffentlicher Gebrauch gemacht und sie einem breiten Publikum mitgeteilt werden kann. Madison sieht die Vernunft des Menschen dabei als in ihrer individuellen Ausformung unsicher an. Das Selbstvertrauen und die Festigkeit des einzelnen steigt mit der Übereinstimmung der eigenen Erkenntnisse und Ansichten mit denen vieler. So hat die Transformierung einer Vernunftwahrheit in eine von der Zeit unabhängige Meinung vieler zur Folge, daß das „solide Raisonnement“ eines einzelnen Allgemeingültigkeit erlangen kann. […]
Arendt sieht mit Bezug auf diese Thesen ein Defizit in der Relation zwischen den philosophischen Wahrheiten und der zeitgeschichtlichen Politik. Weder die Wahrheiten der Offenbarungsreligionen noch die Wahrheiten der Philosophen, die den Menschen als Individuum ansprechen, geraten mit dem politischen Bereich in ernsthaften Konflikt. Religionswahrheiten sind seit der Trennung von Kirche und Staat zur Privatangelegenheit geworden, und die philosophische Wahrheit hat seit langem aufgehört, einen Absolutheitsanspruch im Politischen geltend zu machen. Gerade in der öffentlichen Äußerung von Vernunftwahrheiten liegt auch deren Relativierung, denn wenn sich Vernunftwahrheiten in das Feld der Meinungen begeben, werden auch sie unweigerlich zu solchen. Auch der, der sie vertritt, ändert seine menschliche Existenzweise, indem er vom wahrheitssuchenden Philosophen zum Politiker wird.